Inhaltsverzeichnis 

PC.GIF     PC.GIF    


Alfred de Grazia:
(Herausgeber)


Die Velikovsky Affäre


Livio C. Stecchini

Gegen die Geschichtswissenschaft

Professor de Finetti macht uns bewußt, daß die Ideologen, die die Opposition gegen Velikovsky organisierten, noch bevor sein erstes Buch erschienen war, mit ihren Bemühungen, die akademische Welt zu mobilisieren, Erfolg hatten. Sie brachten das zur Sprache, was im Politikerjargon eine Existenzfrage heißt, nämlich die Angst der Naturwissenschaftler, sie müßten etwas über historische Beweise lernen. Das ideologische Problem der Verneinung einer Entwicklung des Sonnensystems wird in einen Topf geworfen mit dem Problem der Bedeutung historischer Beweise.

Wie ich nachgewiesen habe, gibt es keinen naturwissenschaftlichen Beweis dafür, daß das Sonnensystem keine Geschichte habe: Gäbe es einen solchen Beweis, dann könnten Velikovskys Gegner darauf hinweisen, und der Streit wäre entschieden. Aber da er fehlt, sind die Anhänger der Stabilitätstheorie des Sonnensystems gezwungen, den Kampf auf das Gebiet der Historie zu verlagern. Sie verfallen auf einen kuriosen Ausweg aus diesem Dilemma: Sie bestreiten die Entwicklungsgeschichte des Sonnensystems, indem sie den Wert der historischen Wissenschaft in Frage stellen. Das sieht man deutlich daran, daß bei der Kampagne gegen Velikovsky vor 1952 auf dem Kongreß der American Philosophical Society, der das Problem endgültig aus der Welt schaffen sollte, die Astronomin Cecilia Payne-Gaposchkin sich nicht zu astronomischen Fragen äußerte, sondern sich über die Historie lustig machte.

Die Grundregel dieser Disziplin ist, daß man einen Text richtig zitieren muß. Sie hat bis zum Übermaß demonstriert, wie man sich gegen diese Regel vergehen kann. Gleichermaßen konzentrierte sich der neuerliche Angriff des Bulletin of the Atomic Scientist auf das Gebiet der Historie. Auf physikalischem Gebiet sind die Vertreter Newtonscher Theologie nicht nur außerstande, Beweise zu finden, sondern sie sehen sich einer ständig wachsenden Zahl von Entdeckungen gegenüber (Velikovsky hat viele davon vorausgesagt), die dieser Theologie glatt widersprechen. Die Raumsonden haben sich auf diese Theologie genauso verheerend ausgewirkt wie das Fernrohr auf die Theologie der Gegner Galileis.

Deshalb werden diese Dogmatiker in die Lage hineinmanövriert, den Skeptizismus verteidigen zu müssen. Wie de Finetti feststellt, sehen sie sich gezwungen, den einheitlichen Charakter der Wissenschaft zu verleugnen. Auf dem Gebiet der Naturwissenschaften müssen sie behaupten, daß astrophysikalische Daten, wie Magnetfelder, Radiostrahlung, hohe Temperaturen und Wasserstoffgase auf der Venus, Gase auf. dem Mond, und geologische Daten, wie die Worzelschichten, Tektiten, den neueren Ursprung zumindest einiger Erdölvorkommen, die Ergebnisse paläomagnetischer Analysen, Phänomene seien, zwischen denen kein Zusammenhang besteht. Auf dem Gebiet der Historie müssen sie beweisen, daß diese Disziplin keine Wissenschaft ist und keine verläßlichen Daten irgendwelcher Art liefern kann. Aus diesem Grund hieb Margolis im Bulletin of the Atomic Scientist in die gleiche Kerbe wie Madame Gaposchkin und machte aus einer historischen Dokumentation ein unverschämtes Zerrbild. Er zeigte seine Verachtung mit der Feststellung, er könne nach wenigen Stunden Beschäftigung mit Ägyptologie eine Interpretation widerlegen, die Velikovsky viel Mühe gekostet hat und die von der Autorität William F. Albrights gestützt ist. Margolis trat die geheiligten Prinzipien historischer Forschung mit Füßen: Abschnitt um Abschnitt zitierte er falsch, bezog sich auf Aussagen, die es gar nicht gibt und warf die elementarsten Regeln der Linguistik über den Haufen.

Aber in diesem Streit geht es nicht um Velikovsky, nicht um mich, nicht um den American Behavioral Scientist; es geht um die gesamte wissenschaftliche Tradition seit der Renaissance. Ich hatte angenommen, daß jeder, der sich auf eine Diskussion über wissenschaftliche Methodik einläßt, mindestens das Hauptwerk Galileis kennt, und darum habe ich in meinem Aufsatz nur ergänzende Ansichten, wie sie in den weniger bekannten Werken anderer großer Naturwissenschaftler zum Ausdruck kommen, zitiert. Aber man hat ja versucht, alles in einen Topf zu werfen, also bin ich gerne bereit, meine Beweisführung auf den Passus aufzubauen, in dem Galilei mit überragender Klarheit in Denken und Stil den erkenntnistheoretischen Konflikt zwischen seinem Sprachrohr und dessen aristotelischem Gegenspieler herausstellt:

Salvatius: Aber um Simplicius ganz zufriedenzustellen und ihn, wenn möglich, von seinen Irrtümern abzubringen, versichere ich, daß wir in unseren Tagen neue Ereignisse haben beobachten können, die ganz zweifellos Aristoteles, lebte er heute, dazu bringen würden, seine Meinung zu ändern. Das läßt sich seiner Art zu argumentieren unschwer entnehmen, denn wenn er schreibt, er halte den Himmel für unveränderlich, weil man nicht gesehen habe, daß dort Neues entstanden oder Altes vergangen sei, so gibt er damit zu verstehen, wenn er solches geschehen sähe, würde er das Gegenteil behaupten und die Beobachtung über die natürliche Vernunft stellen (wie es ja auch richtig ist). Denn wenn er sich nicht auf die Sinne verlassen hätte, dann hätte er nicht daraus, daß er keinerlei Veränderungen gesehen hat, auf die Unveränderlichkeit geschlossen.

Simplicius: Aristoteles leitete sein Hauptargument a priori her, indem er bewies, der Himmel müßte aufgrund natürlicher, offenkundiger und klarer Prinzipien notwendigerweise unveränderlich sein. Dann erst begründete er es a posteriori mit Hilfe der Sinne und der Überlieferung der Alten [3].

Die astronomische Frage, ob das Sonnensystem unveränderlich ist, läßt sich nicht a priori lösen, sondern nur a posteriori durch Prüfung »der Überlieferung der Alten«. Galilei behauptete, daß astronomische Theorien über den Aufbau des Sonnensystems mit dem historischen Beweismaterial stehen und fallen. Ich habe gezeigt, daß selbst Newton, dem gar nicht paßte, was er in den historischen Aufzeichnungen vorfand, nichts dagegen zu sagen wußte. Man kann Newtons Kosmologie .nicht vertreten, wenn man nicht auch die Schlüsse aus seinen historischen Schriften mit vertritt. Deshalb kann der Astronom, der heute etwas über die Mechanik des Sonnensystems sagen will, die historischen Materialien nicht einfach übergehen. Er muß die Ergebnisse historischer Forschung mitberücksichtigen.

Der Verfasser des Artikels im Bulletin of the Atomic Scientist versucht, einen Streit darüber, was das Wesen wissenschaftlicher Forschung ausmacht, auf Argumente ad hominem zu reduzieren. Er behauptet, Velikovskys Moral sei zweifelhaft, er gehe mit Quatsch hausieren, und deshalb seien diejenigen, die sich für derartiges engagierten, auch nicht viel besser. In ähnlicher Weise wirft Eugene Rabinovitch in seinem Brief an Professor Hess, in dem er die editorischen Prinzipien erläuterte, den »Behavioristen« uneingestandenen Neid vor. In seinem. Schreiben vom 23 . Juni 1964 an die Redaktion des American Behavioral Scientist erklärt er, historisches Beweismaterial sei sowieso nicht endgültig und oft eine umstrittene Sache«.

Jede Wissenschaft, die auf Wahrnehmungen beruht, d. h. jede Wissenschaft, die sich nicht auf die Prämissen rein geistiger Anschauung stützt, denen man sich sklavisch zu unterwerfen hat, kann ja gar »nicht endgültig« und muß »oft umstritten« sein. Wenn man die Prozeßakten Galileis liest, erkennt man deutlich, daß dies das Hauptargument gegen ihn war. Und das war anscheinend auch der Grund für seinen Widerruf; er gab zu, seine Wissenschaft nütze denen gar nichts, die nach unbedingter Sicherheit verlangen.

Die Geschichte (es sei denn, man glaubt an einen dogmatischen und scholastischen Marxismus, und der ist heute selbst in der Sowjetunion schon passe [4] ) ist eine empirische Wissenschaft, ja sogar, mit Verlaub des Herrn Rabinovitch, eine Verhaltenswissenschaft. Als solche kann sie nicht die unbedingte Gewißheit geben, die das Bulletin of the Atomic Scientists mit Plato fordert, wenn man von Wissenschaft reden will. Aber es läßt sich beweisen, daß die Geschichte konkrete und wirklich bedeutsame Informationen liefern kann, selbst auf dem Gebiet der Himmelserscheinungen. Die Geschichtswissenschaft, wenn man sie richtig gebraucht, erzielt dieselben Ergebnisse wie jede andere Wissenschaft auch. Allerdings mit einer einzigen Einschränkung, die dieser Disziplin eigen ist: Sie ist auf zufällig erhaltene Dokumente aus der Vergangenheit angewiesen, und sie kann sie nicht wieder herbeischaffen, wenn sie verloren sind. Das eigentliche Problem ist abzuschätzen, wieviel und welcher Art das erhaltene Material ist.




PC.GIF     PC.GIF    

 Inhaltsverzeichnis