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Alfred de Grazia:
(Herausgeber)


Die Velikovsky Affäre


Alfred de Grazia

Das dogmatische Modell


Zum Schluß müssen wir noch ein weiteres, das dogmatische Modell vorstellen. Professor Stecchini hat genug Gründe aufgezählt dafür, daß der Widerstand gegen Velikovskys astronomische Theorien rein ideologisch begründet war; die Astronomen sahen es nicht gern, daß ihr geordnetes Universum in Frage gestellt wurde. Viel Material aus anderen Gebieten - aus Archäologie, Bibelwissenschaft, Paläontologie, Geologie, Physik und Biologie - weist in die gleiche Richtung: Velikovskys Theorien, die sich gegen die Schulmeinung richten, werden scharf angegriffen. Jede Waffe wird gegen die neuen Ideen eingesetzt- Anprangerung von oben, Argumente ad hominem, logische Tricks, manipulierte Beweise, Unterdrückung, Verweigerung der Anerkennung und eisiges Schweigen.

Nach den Spielregeln des dogmatischen Modells ist die einzige und ausreichende Erklärung dafür, daß sich diejenigen, die am jetzigen Wissensstand festhalten, sich zur Abwehr gegen den Neuerer verbünden. Neues Material und neue Personen werden nur insoweit anerkannt, als sie zu den herrschenden Theorien und Normen passen.

Mehrere Tests des dogmatischen Modells sind möglich:

(1)
Ist man sich aus anderen als rationalistischen Gründen einig gegen ein Buch? Wenn ja, dann bietet das dogmatische Modell eine Erklärung. Wie spontan und allgemein Velikovskys Werk angeprangert wurde, ist überzeugend. Der Machtapparat allein ist keine ausreichende Erklärung. Auch nicht das rationalistische System. Ebensowenig das System der Planlosigkeit. Jedoch der Gedanke einer kollektiven Zwangsvorstellung, die eine große Zahl Leute auf allen Ebenen und auf allen Gebieten der Wissenschaft erfaßt, würde zum dogmatischen Modell passen.

(2)
Lehnt die Machtelite neue und richtige Ideen ab, obwohl deren Wirkung ihre Macht vielleicht verstärkt? Ist die Antwort ein klares »Ja«, dann paßt das dogmatische Modell. Der Fall Velikovsky ist freilich in diesem Punkt nicht eindeutig. Das hängt zum Teil damit zusammen, daß man sich nicht einig ist, ob seine Theorien richtig sind. Aber auch andere Faktoren tragen dazu bei. 1950 wackelte der Thron der Königin der Wissenschaften, der Astronomie. Ein Durchdenken der Theorien Velikovskys hätte ihn stützen können. Die Schwäche der Altphilologie war offenkundig. Sie hätte verjüngt werden können. Der Zustand der Biologie war nicht ganz so schlimm, aber ihr hätte eine energische neue Prüfung der Evolutionstheorie gutgetan. Die Geologie zeigte keine Schwäche, die Physik auch nicht. Sie bedurften keines großen Prestiges. Sie alle verwarfen die Ideen. Es scheint daher, als hätte Macht (Prestige) nicht den Ausschlag gegeben.

Jedoch ist die Macht außerhalb einer Disziplin etwas anderes als die Macht in ihr. Die Geschichte zeigt, wie immer wieder Machteliten scheitern, weil sie mehr darauf bedacht sind, innerhalb eines Gebietes Macht zu erlangen oder zu behalten, als den Rahmen und die Intensität ihrer Macht gegenüber der Außenwelt zu halten oder noch zu erweitern. Es ist bekannt, daß Kavalleriegenerale die Sicherheit ihres Landes aufs Spiel gesetzt haben, nur um die Stellung ihrer überholten Waffengattung innerhalb der Militärhierarchie zu bewahren. Eine Autorität auf dem Gebiet der Altphilologie könnte leicht um ihrer persönlichen Stellung willen die Möglichkeiten ihrer Disziplin opfern.

Unter den Fundamentalisten und anderen Glaubensgruppen, die gegenüber der modernen Wissenschaft eine Randstellung einnehmen, stellen wir einen Scharfblick fest, was die wesentlichen Machtfragen angeht. Vielleicht sehen sie eine Möglichkeit, wieder zur Wissenschaft zu werden, aus der sie schon längst durch evolutionäre und antibiblische Doktrinen verdrängt sind.

(3)
Nehmen Machtklüngel innerhalb der Machtelite, die einander bekämpfen, die gleiche Haltung gegenüber Neuerungen ein? Wenn ja, dann deutet dies auf das dogmatische Modell hin. Im Fall Velikovsky läßt sich sagen, daß jede wissenschaftliche Führungsgruppe ihm entweder ablehnend gegenüberstand oder ihn totschwieg. Wenn Cliquen da waren, dann darf man Dogmatismus voraussetzen. Die Antwort fällt nicht leicht. Vielleicht hat es keine Cliquen gegeben, oder vielleicht haben sie ihre »objektiven« Interessen (Planlosigkeit) nicht erkannt, oder vielleicht waren sie dogmatisch zerstritten.

Auf dem autonomen Gebiet der Wissenschaften ist die Sachlage etwas weniger kompliziert. In keinem der sechs betroffenen Fachgebiete griff eine Clique die Fragen auf. In der Astronomie hätte Struve Shapley entgegentreten können, aber er stellte sich gegen Velikovsky auf einen dogmatischen Standpunkt. Die Gruppe an der Westküste der USA war in ihrer Opposition nicht ganz einig. Wiederum die Frage: Planlosigkeit? Ein Sich-gegenseitig-Neutralisieren von Dogmatismus und Cliquenwirtschaft?

(4)
Besteht tatsächlich eine starke Wechselbeziehung zwischen Opposition und Neuheit, wobei Wahrheit eine Konstante ist? Wenn ja, dann paßt das dogmatische Modell. Der Fall Velikovsky allein reicht zu diesem Test nicht aus. Man ist sich noch nicht einig über den Grad der Richtigkeit der zahlreichen Theorien. Die Opposition hat die Bücher pauschal behandelt; daher sind die Ansichten über eine Behauptung mit Ansichten über andere verquickt.

(5)
Wenn mehrere Fachrichtungen, die unabhängige Machtgruppen sind, mit Interesse von einem neuen Werk Kenntnis nehmen, und wenn der rationalistische Kodex nicht angewandt wird, hängt dann ein übereinstimmendes Urteil ab von dem Grad, in dem seine Theorien und seine Methoden für die einzelnen Disziplinen neu sind? Wenn ja, dann ist es eher Dogmatismus als anderes.

Auch hier wieder gibt es im Fall Velikovsky keine eindeutige Antwort. Verschiedene Fachgebiete interessierten sich, aber jedes wurde radikal angegriffen. Die einzige Gruppe, die an den Erkenntnissen Velikovskys nicht hätte Anstoß zu nehmen brauchen, wären die psychoanalytisch orientierten Anthropologen der Volkskunde gewesen, und man hat sie auch kaum gewarnt (wieder das Modell der Planlosigkeit).

(6)
Wenn irgendwelche Aussagen als empirisch bewiesene wissenschaftliche Behauptungen hingestellt werden und ständig wiederholt werden, dann paßt das dogmatische Modell. Immer wieder werden die gleichen simplen Behauptungen gegen Velikovsky vorgebracht. Das ist ein bekannter rhetorischer Propagandatrick, und er würde an sich zum Machtmodell passen. Aber diese Behauptungen könnten auch ernst gemeint sein. Beispiele:

Die Erde kann nicht plötzlich anhalten, ohne daß sie auseinanderfällt. (In dieser Form richtig, aber Velikovsky hat das nie so behauptet.)

Der Meeresspiegel hat sich in historischer Zeit nicht geändert. (Falsch.)

Es stehen noch Tempel und Wohnhäuser aus der Zeit vor 1500 v. Chr. (Falsch.)

Ausgrabungen in Ur deuten nicht auf eine Überschwemmung hin. (Falsch.)

Die Aufzeichnungen über Sonnenfinsternisse reichen bis 3000 v. Chr. zurück. (Falsch.)

Aufzeichnungen, aus denen klar hervorgeht, die Venus sei ein Planet auf einer regelmäßigen Bahn, gibt es schon seit vor 1500 v. Chr. [22] (Falsch.)

Velikovsky ist kein Wissenschaftler.

Wirkt die Sprache der Rezensenten und Kommentatoren eher dogmatisch und autoritär als rationalistisch? Wenn ja, dann handelt es sich um das dogmatische Modell. Tatsächlich tritt das im Fall Velikovsky deutlich zutage. Im New Haven Connecticut Register vom 25. Juni 1950 erschien eine gemeinsame Rezension von Welten im Zusammenstoß von vier Professoren der Yale University. Kurze Zeit später druckte sie das American Journal of Science nach. Ich habe versucht, den Inhalt kurz zusammenzufassen. Dabei ließ ich die Frage außer acht, inwieweit die empirischen Aussagen der Autoren richtig sind; ich versuchte herauszufinden, in welchem Verhältnis die Aussageformen zueinander stehen. Ich ging dabei vom Satz aus und ordnete jede Aussage in eine von fünf formalen Kategorien ein: eine Beschreibung, die angeblich über den Inhalt des Buchs referierte; eine empirische Aussage, die eine Sachbehauptung über das wissenschaftliche Material enthielt; eine logischempirische Aussage über das Verhältnis von Fakten zu Annahmen; eine dogmatisch-autoritäre Aussage, die eine Überzeugung oder eine übereinstimmende Ansicht von Fachleuten enthielt; sowie vermischte Aussagen über die persönlichen Motive von Autor und Verleger.

Bei dieser Analyse ergab sich folgendes Bild:

27 Sätze angeblich über den Inhalt,
4 angeblich empirische Aussagen,
12 angeblich logisch-empirische Aussagen,
27 dogmatisch-autoritäre Aussagen und
8 Sätze über den Charakter von Autor und Verleger.

Eine getrennte Zählung, bei der es um die Werturteile ging, ergab
2 positive,
31 wertfreie und
46 negative Sätze über das Werk.

Im Fall Velikovsky trat die rationalistische Kritik hinter dogmatisch-autoritärer Kritik mit negativer Tendenz weit zurück. Wendet man diese Untersuchungsmethode auf den gesamten Fall Velikovsky an, und nicht nur auf ihn, sondern auch auf viele Fälle anderer Wissenschaftler, so könnte es zu einer gründlichen Überholung der Methoden wissenschaftlicher Beurteilung führen. Zum allermindesten würde es die Funktion der Kritik im rationalistischen System der Bewertung von Wissenschaft sehr niedrig einstufen.

Die Sprache der Akademiker unter den Rezensenten ist eindeutig grob, scharf und feindselig. Man könnte fragen, ob das nicht ein Zeichen dafür ist, daß das Machtsystem am Werk ist. Die Sprache der Macht und die Sprache des Dogmatismus sind sich oft ähnlich: Etablierte Macht ist konservativ.

Weiterhin stellen wir fest, daß die nichtakademischen Rezensenten, die in die Hunderte gehen, mehr als die Wissenschaftler bereit sind, im Umgang mit Velikovskys Ideen rationalistisch zu argumentieren. Vielleicht geht es dabei um Macht und nicht um Dogma. Man könnte daraus schließen, beide, dogmatische und Machtmotive, seien vertreten. Die vielen beleidigenden Äußerungen lassen deutlich erkennen, daß Welten im Zusammenstoß gegen die dogmatische Abwehr und auch gegen die bestehenden Machtstrukturen vorging.




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